Psychotherapie: Seismograph und Stütze einer Gesellschaft, die mit sich selbst nicht mehr klar kommt
Der alarmierende Anstieg psychisch bedingter Erkrankungen und hierdurch oft auch hervorgerufener körperlicher Beschwerden sind nach Ansicht des Vorsitzenden des Vorstandes der KVBW, Dr. med. Norbert Metke, Symptome einer Gesellschaft, die durch Werteverlust bedingt mit sich selbst nicht mehr klar kommt. Psychische Erkrankungen verlaufen oft schwerwiegend und verursachen neben zerstörten Lebenswegen auch einen hohen volkswirtschaftlichen Schaden durch Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung.
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Dr. Norbert Metke, sieht in dem Artikel aus der „Welt am Sonntag“ eine Reihe von Forderungen der KVBW bestätigt, übt aber auch deutliche Kritik an der undifferenzierten, oberflächlichen und pauschalen Verurteilung der Psychotherapie. Metke sagte in Stuttgart: „Ich begrüße es, dass eine renommierte Zeitung wie die Welt am Sonntag einige Missstände im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung deutlich angesprochen hat. So kämpfen wir seit Jahren dafür, die niedergelassenen Psychotherapeuten, Psychiater und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die eine langjährige, sehr aufwändige Ausbildung durchlaufen mussten und regelmäßig umfangreiche Fortbildungsverpflichtungen erfüllen müssen, gegenüber unseriösen Wellness-Angeboten und fragwürdigen Methoden vieler Privatanbieter in Schutz zu nehmen. Während dort in erster Linie die finanziellen Interessen im Vordergrund stehen, erbringen die niedergelassenen psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Psychologen eine hervorragende Leistung an einem oft sehr schwierigen Klientel.“
Metke wies auch auf die Forderungen der KVBW hin, Änderungen in der Bedarfsplanung vorzunehmen. „Wenn das Autorenteam beklagt, dass die Verteilung der Psychotherapeuten wenig sinnvoll ist, dann ist das maßgeblich auf die derzeitigen Regelungen der Bedarfsplanung zurückzuführen, die für die Psychotherapeuten zu absurden Ergebnissen führt. Vom geplanten Versorgungsstrukturgesetz erhoffen wir uns eine deutliche Verbesserung.“
Der KVBW-Chef kritisierte jedoch die aus seiner Sicht einseitige Betrachtung der Situation. „Die Unterscheidung der Autoren des Artikels zwischen eher leichter und schwerer psychisch erkrankten Patienten ist nicht zulässig. Zu Beginn einer Therapie, zu einem Zeitpunkt, wo es dem Patienten schlecht geht, ist es meist nicht möglich, sofort zu diagnostizieren, ob die Beschwerden des Patienten Ausdruck einer leichten, nur vorübergehenden psychischen Störung oder schwerwiegender Natur sind.“ Ebenso könne er die Behauptung nicht nachvollziehen, die Zunahme der Zahl der psychisch Erkrankten sei eine in erster Linie fiktive. „Es ist ein Verdienst der gesellschaftlichen Entwicklung, dass psychische Erkrankungen vom Stigma früherer Zeiten befreit wurden und die Patienten heute damit zum Arzt oder Therapeuten gehen. Die Wartelisten unserer Therapeuten sind voll, es würde keinen Sinn ergeben, wenn sie sich mit Patienten befassen würden, die eigentlich keine sind.“ Er warnte davor, die psychischen Erkrankungen heute nicht ernst zu nehmen. „Das würde genau wieder dazu führen, dass die Menschen sich wieder nicht trauen, sich das einzugestehen und behandeln zu lassen. Menschen, die sich in eine Behandlung bei einem Psychotherapeuten begeben, müssen eine hohe persönliche Hürde überspringen. Denn Gegenstand der Behandlung ist oft, sich mit der eigenen Persönlichkeit und dem Lebensumfeld auseinanderzusetzen und sich einzugestehen, mit der Bewältigung der eigenen Lebenssituation überfordert zu sein. Das ist oft mit sehr schmerzhaften Erkenntnisprozessen verbunden, die alles andere als einfach sind.“
Vor diesem Hintergrund bezeichnete Metke auch die Äußerungen, wonach die Therapien zu lange andauern würden, als falsch. „Es liegt in der Natur der Sache, dass der Therapiefortschritt in den ersten Stunden, wo sich eine Reihe von Blockaden beim Patienten lösen, höher ist und danach abnimmt. Das ändert aber nichts daran, dass die weiteren Behandlungen nicht ebenso notwendig sind, da es nicht darum geht, kurzfristig die Symptome zu kurieren zu einer Verbesserung des Zustands zu gelangen, sondern eine lang anhaltende Genesung zu erreichen. Das braucht bei psychischen Erkrankungen häufig Zeit, zumal die Verbesserungen oft mit der Änderung der Lebenssituation des Patienten einhergehen müssen.“ Auch die Ablehnung der Psychoanalyse und die Klage, dass Patienten mit falschen Therapien behandelt würden, wies Metke in aller Deutlichkeit zurück. „Die Psychoanalyse ist eine anerkannte Therapiemethode. Im Übrigen sind alle von den Krankenkassen bezahlten Therapien für alle Erkrankungen zugelassen, die ebenfalls unter den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkasse fallen.“