Vorträge und Berichte

Rund um das Thema Selbsthilfe stellen sich den Menschen zahlreiche Fragen. Wie arbeiten Selbsthilfegruppen eigentlich? Wie verbreitet sind Selbsthilfegruppen in Deutschland und Baden-Württemberg? Wo sind die Schnittstellen zu den Ärzten? Wie können sich Patienten über gesundheitliche Themen informieren? Was ist zu tun, wenn...? Und viele mehr.

Die KVBW lädt regelmäßig zu gemeinsamen Veranstaltungen für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Gesundheitsexperten ein, um den Erfahrungsaustausch zu fördern. Außerdem beteiligt sich die KVBW an einer Reihe von Gesundheitstagen und Veranstaltungen, um die medizinische Kompetenz der Ärzte und Psychotherapeuten einzubringen. Seit der ersten Fachtagung Selbsthilfe, 2004 in Stuttgart, gab es viele interessante Begegnungen. Die informativen Referate und Veranstaltungsberichte zu grundlegenden Fragen stehen Ihnen hier als PDFs zur Verfügung und werden laufend ergänzt.

Berichte über Fachtagungen zur Selbsthilfe

Nach dem Erfolg im vergangenen Jahr in Stuttgart, gab es nun eine Neuauflage: Die Fachtagung „Psychotherapie trifft Selbsthilfe“ fand am 29. Juni 2024 erneut statt – dieses Mal in Freiburg. Die Kooperationsberatung für Ärzte/Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen (KOSA) der KVBW bot die Fachtagung in Kooperation mit der Landes­psycho­therapeuten­kammer (LPK) BW, der Bezirksärztekammer Südbaden, der LAG-Selbsthilfe BW und der SEKiS BW an.

Ziel der Veranstalter war es, ärztliche und psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten darüber zu informieren, welche Möglichkeiten Selbst­hilfe­gruppen und Selbst­hilfe­kontakt­stellen anbieten. Auf der anderen Seite erhielten Vertretende von Selbsthilfegruppen einen Überblick über die Behandlungs­möglichkeiten der Psychotherapie.

Die rund 120 Teilnehmenden wurden von der stellvertretenden Vorstands­vorsitzenden der KVBW, Dr. med. Doris Reinhardt, und von der Präsidentin der Bezirks­ärzte­kammer Südbaden, Dr. med. Paula Hezler-Rusch, herzlich begrüßt. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Peter Baumgartner, Psychologischer Psychotherapeut in Offenburg, Mitglied des Bezirksbeirates.

Kraft tanken in einer Selbsthilfegruppe

Den ersten Fachvortrag hielt Lena Binkowski, Bildungspsychologin (M. Sc.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tumorzentrum Freiburg (CCCF) der Uniklinik Freiburg (Professur für Selbsthilfeforschung), mit dem Titel: „Gesundheitsbezogene Selbsthilfe als Pfeiler der psychosozialen Versorgung – eine Einführung“. In ihrem Vortrag gab sie einen Überblick zur Entstehungsgeschichte der Selbsthilfe, verdeutlichte, wie unterschiedlich Selbsthilfegruppen und deren Arbeitsweisen sind, und zeigte anhand von Forschungsergebnissen, in welchen Bereichen die Gruppen­treffen Wirkung entfalten. Eine ihrer „take home messages“ war, dass Selbsthilfe eine wichtige Kraftquelle für Betroffene ist, die die psychologische/­therapeutische Behandlung sinnvoll ergänzen kann.

Im darauffolgenden Bericht eines Betroffenen konnte Rainer Höflacher diese These unterstützen. Bei der Vorstellung seiner Selbsthilfegruppe machte er deutlich, wieviel Kraft er aus den Gruppen­treffen ziehen kann, da er in seiner Gruppe unter gleich Betroffenen offen über Probleme reden kann, sich verstanden fühlt und neue Freunde gewonnen hat.

Vernetzung und Austausch 

Im Anschluss hatten die Teilnehmenden Gelegenheit sich bei einer „walking gallery“ an verschiedenen Infopoints mit Vertreterinnen und Vertretern von Selbst­hilfe­gruppen und Angehörigen­verbänden auszutauschen und zu informieren. Ein geschäftiges Treiben und zahlreiche Gespräche im Foyer der KVBW-Bezirks­direktion Freiburg zeugten vom großen Gesprächs- und Informationsbedarf auf allen Seiten. 

Nach der Mittagspause folgte ein Beitrag von zwei Vorständen der SEKiS der Selbsthilfekontaktstelle auf Landesebene. Franziska Morgalla aus Lörrach und Johannes Fuchs aus Konstanz verdeutlichten die Aufgaben und Unterstützungs­möglichkeiten, die Selbsthilfekontaktstellen für Psychotherapeutinnen und Therapeuten sowie Patientinnen und Patienten anbieten. 

Wie wertvoll die Arbeit der Kontaktstellen für Psychotherapeuten ist, unterstrich Dr. Dietrich Munz, Präsident der LPK BW, in seinem Vortrag mit dem Titel: „Psychotherapie und Selbsthilfe – eine gegenseitige Ergänzung“. In seinen Ausführungen machte er deutlich, wie Patienten davon profitieren, wenn sie therapie­begleitend oder im Anschluss einer Therapie durch den Besuch einer Selbsthilfegruppe weitere Unterstützung erfahren. Munz verwies auf die Behandlungs­leitlinien der Arbeits­gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die bei verschiedenen psychischen Erkrankungen eine Empfehlung zum Besuch einer Selbsthilfegruppe beinhalten. Bereits 2017, in seiner Funktion als Präsident der Bundes­psycho­therapeuten­kammer, hatte sich Munz dafür eingesetzt, dass die Potentiale der Selbsthilfe noch besser genutzt werden sollten. Um an dieser Stelle voranzukommen, so schloss er, bedürfe es aber mehr Aufklärung der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten über die Strukturen und Angebote der Selbsthilfe vor Ort.

In der Abschlussdiskussion nutzten alle Beteiligten die Gelegenheit, sich über bereits bestehende Zusammenarbeit auszutauschen, es wurden Vor- und Nachteile angesprochen. Die zahlreichen positiven Rückmeldungen veranlassten das Plenum jedoch, intensiv darüber zu diskutieren, wie sich Selbsthilfegruppen und Behandler künftig noch besser vernetzen können.

Weiterführende Informationen finden Sie bei der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg.

Am 25. November 2023 veranstaltete die Kooperationsberatung für Ärzte/Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen (KOSA) der KVBW den ersten Fachtag in Baden-Württemberg, der sich zum Ziel setzte: ärztliche und psychologische Psychotherapeuten mit Selbsthilfegruppen zusammenzubringen. Der Fachtag bot Gelegenheit gegenseitige Kontakte zu knüpfen und die Vernetzung auszubauen. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Landes­psycho­thera­peuten­kammer (LPK) BW, der LAG-Selbsthilfe BW und der SEKiS BW in Stuttgart statt. Unterstützt wurde die Veranstaltung durch viele Selbsthilfeaktive, die am Nachmittag ihre Selbsthilfegruppen an Infopoints in der walking gallery präsentierten. Dr. Alessandro Cavicchioli, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Psychologischer Psychotherapeut mit KV-Praxis in Schwäbisch Hall sowie Bezirksbeirat der KVBW, moderierte die Veranstaltung.

Selbsthilfe verbessert die Lebensqualität

Nach der Begrüßung der 150 Teilnehmenden durch die stellvertretende KVBW-Vorstandsvorsitzende Dr. Doris Reinhardt führte Alice Valjanow, Psychologin (M. Sc.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tumorzentrum Freiburg (CCCF) der Uniklinik Freiburg (Professur für Selbsthilfeforschung), in das Thema ein. In ihrem Vortrag „Gesundheitsbezogene Selbsthilfe als Pfeiler der psychosozialen Versorgung“ gab sie einen Überblick zur Entstehungsgeschichte, verdeutlichte die unterschiedlichen Arbeitsweisen verschiedener Selbsthilfegruppen und zeigte anhand von Forschungsergebnissen, in welchen Bereichen die Gruppentreffen für Betroffene laut eigenen Angaben Wirkung zeigen. Zu den Spitzenreitern mit über 90% zählen die Rückmeldungen, dass Selbsthilfeaktive das Gefühl haben, nicht allein zu sein und dass sie in der Gruppe offen über ihre Probleme sprechen können. Anhand von eigenen und fremden Studien zeigte Valjanow, dass der Besuch einer Selbsthilfegruppe zur „Verbesserung der Lebensqualität“ von Betroffenen beiträgt.

Menschen entwickeln in Selbsthilfegruppen neue Stärken

Im Anschluss an den Einführungsvortrag kam ein Betroffener selbst zu Wort. Ein Gruppenleiter aus der Selbsthilfe mit dem Thema Depression berichtete sehr authentisch, wie Menschen in den Selbsthilfegruppen ganz neue Stärken entwickeln. Er erzählte, was ihm der Besuch der Gruppe konkret gebracht hat und zeigte auf, wie er durch die Unterstützung seiner Gruppe wieder zurück in ein für ihn lebenswertes Leben gefunden hat. Bis heute erfährt er in der Gruppe Hilfe, um diesen Weg weiterzugehen.

Selbstmanagement dient der Krankheitsbewältigung

Dr. Dietrich Munz, Präsident der (LPK) BW, hielt einen Vortrag mit dem Titel: „Psychotherapie und Selbsthilfe – eine gegenseitige Ergänzung“. In seinen Ausführungen machte er deutlich, wie Patienten davon profitieren, wenn sie therapiebegleitend oder im Anschluss einer Therapie durch den Besuch einer Selbsthilfegruppe weitere Unterstützung erfahren. Munz verwies auf die Behandlungsleitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), die bei verschiedenen psychischen Erkrankungen eine Empfehlung zum Besuch einer Selbsthilfegruppe aussprechen. Bereits 2017, in der Funktion als Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, hatte sich Dr. Munz dafür eingesetzt, dass die Potentiale der Selbsthilfe noch besser genutzt werden sollten. Um an dieser Stelle voranzukommen, so schloss er, bedürfe es aber mehr Aufklärung der Therapeuten über die Strukturen und Angebote der Selbsthilfe vor Ort.

Unterstützer des Selbsthilfesystems

Auf diese Forderung boten die Vorträge von Silke Wohlleben, Geschäftsführerin SEKiS der Selbsthilfekontaktstelle auf Landesebene, und Brigitte Stähle, stellvertretende Landesvorsitzende der LAG-Selbsthilfe, eine Antwort. Beide Institutionen unterstützen Selbsthilfegruppen; insbesondere SEKiS in Zusammenarbeit mit den 35 regionalen Kontaktstellen in Baden-Württemberg hilft Patienten und Therapeuten auf der Suche nach geeigneten Gruppen.

Der Ablauf des Vormittags wurde durch Nils Theurer (Freiburg) synchron in einem „Graphic Recording“ festgehalten. Diese Dokumentation wurde durch den LV BW ApK gesponsort.

Nach der Mittagspause hatten die Teilnehmenden die Gelegenheit sich an Infopoints in der walking gallery mit Vertretern von Selbsthilfegruppen und Therapeuten auszutauschen und zu informieren. Es herrschte ein gesprächiges Treiben in den Räumen der Bezirksdirektion der KVBW in Stuttgart-Möhringen.

Zur Abschlussdiskussion kamen alle Personen im Vortragssaal zusammen, um über aktuell bestehende Kooperationen zu diskutieren. Intensiv wurde überlegt, wie man sich gegenseitig weiter vernetzen könnte. Die Bilanz des Fachtages war durchweg positiv und der Wunsch nach weiteren Veranstaltungen dieser Art, auch in anderen Regionen Baden-Württembergs, war groß. Die KVBW wird dies in ihren Planungen für das Jahr 2024 berücksichtigen.

Weiterführende Informationen sowie die Präsentationen finden Sie bei der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg.

Müdigkeit, Atemprobleme, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Schmerzen und Geschmacks-/Geruchverlust: Die Symptome bei Post-COVID sind vielfältig. Glücklicherweise klingen sie bei den allermeisten Patienten innerhalb von Wochen wieder ab. Doch bei einigen bleiben sie dauerhaft – man spricht dann von Long-COVID.

Diagnose und Behandlung dieser Patienten sind noch immer geprägt von Unverständnis, Ratlosigkeit und einer Vielzahl unterschiedlicher Therapieansätze. Oft genug fühlen sich die Patienten mit ihrer Erkrankung allein gelassen.

Umso wichtiger ist für diese Patienten ein Hausarzt, der sie ernst nimmt und sie durch den Dschungel an Untersuchungen und Behandlungsmöglichkeiten schleust. Wichtig dabei: Netzwerke von Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Physio- und Ergotherapeuten, Psychotherapeuten und nicht zuletzt Selbsthilfegruppen.

Fachtagung „Long-COVID: Genesen, aber nicht gesund“

Um bei der Netzwerkbildung zu helfen und den fachlichen Austausch zu unterstützen, hatte die Kooperationsberatung (KOSA) der KVBW gemeinsam mit der SEKiS, der Landeskontaktstelle für die Selbsthilfegruppen, am 9. Juli 2022 zur Fachtagung „Long-COVID: Genesen, aber nicht gesund“ eingeladen. Nach der beeindruckenden Einführung einer von der Krankheit Betroffenen führten Fachärztinnen und Fachärzte der Inneren Medizin, der Pneumologie und der Allgemeinmedizin sowie eine Psychologische Psychotherapeutin jeweils aus ihrer Sicht in das Thema ein.

Ergänzt wurden diese Ausführungen von einem Beitrag über die erfolgreichen Therapieansätze einer Reha-Einrichtung. Außerdem gab es von wissenschaftlicher Seite einen Überblick über den Stand einer Long-COVID-Studie am Universitäts­klinikum Ulm und über den Aufbau des Netzwerkes www.longcovidnetz.de durch das Universitätsklinikum Heidelberg.

Der erste Süddeutsche Fachtag der Seltenen Erkrankungen wurde veranstaltet von den Kassenärztlichen Vereinigungen Bayerns und Baden-Württemberg zusammen mit dem Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Ulm im Februar 2020 im Haus der Begegnung in Ulm. Verschiedene weitere Institutionen haben die Tagung unterstützt, darunter die beiden Selbsthilfekontaktstellen auf Landesebene SEKiS Baden-Württemberg und Seko Bayern, die LAG SELBSTHILFE aus beiden Bundesländern sowie der Bayerische Apothekerverband e. V..

 

1.  Süddeutscher Fachtag der Seltenen Erkrankungen 

Am 29. Februar 2020 dem internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen fand in Ulm der erste Süddeutsche Tag der Seltenen Erkrankungen unter dem Motto „Selten sind viele“ statt. Die mit 180 Teilnehmern sehr gut besuchte Veranstaltung, bot den Teilnehmern ein Vortragsprogramm mit verschiedenen interessanten Fachvorträgen. Die Besucher konnten sich zudem an zahlreichen Informationsständen von Selbsthilfegruppen zu verschiedenen Seltenen Erkrankungen informieren. Parallel zum Vortragsprogramm wurden am Vormittag und am Nachmittag jeweils zwei Workshops angeboten, in denen jeweils eigene Erfahrungen und Anliegen der Betroffenen und Behandler diskutiert und bearbeitet wurden. 

 

Hier finden Sie die Ergebnisse der Workshops und die zur Verfügung gestellten Folien zu den Vorträgen. 

Demenz ist ein komplexes Krankheitsbild und eine Herausforderung für behandelnde Ärzte und Psychotherapeuten. Beginnend bei der Diagnosestellung über die Behandlung bis zu den ergänzenden Hilfestellungen für Betroffene und Angehörige. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Württemberg in Unterstützung der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg / Selbsthilfe Demenz und dem Sozialministerium organisierte deshalb eine Fachtagung mit dem Thema „Demenz“, um Ärzte und Psychotherapeuten bei der Versorgung und Betreuung der Patienten zu unterstützen. Ein Schwerpunkt der Veranstaltung lag darauf, den Behandlern die ergänzenden Hilfestellungen, die es vor Ort für Patienten und Angehörige bereits gibt, aufzuzeigen.

Chronische Erkrankungen sind für Betroffene und ihre Angehörigen eine große Belastung. Mit jahrelangen Einschränkungen, Behinderungen oder Schmerzen zu leben, belastet auch die Psyche der Betroffenen.

Oftmals werden durch die Therapie der Erkrankung – die beschriebenen individuellen Herausforderungen die chronisch Erkrankte zu bewältigen haben – nicht abgedeckt. Um Hilfestellungen und Lösungsansätze für eine bessere Lebensqualität chronisch kranker Menschen zu erarbeiten, hat die KVBW und ihre Kooperationspartner diese Veranstaltung angeboten.

Mit einer Teilnehmerzahl von über 100 Ärzten/Psychotherapeuten und ca. 60 Vertretern von Selbsthilfegruppen/Institutionen stieß die Veranstaltung auf großes Interesse.

Männer die tanzen und sich mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen

Zu Beginn der Veranstaltung hielt ein Vertreter der Selbsthilfegruppe „Jung und Krebs“ einen zehnminütigen Einführungsvortrag. Er beeindruckte durch die positive „Lebensenergie“ die er trotz verschiedenen „Rückschlägen“ in seinem jungen Leben ausstrahlte. Seine Gruppe gibt ihm Rückhalt und Geborgenheit. „Es hilft unendlich, dass man sich unter ebenfalls Betroffenen nicht erklären muss, sondern einfach angenommen ist“, berichtete er. Im Rückblick auf seine Krankheitsphase konnte er Lebensziele überdenken und neu ausrichten. Mit folgendem Satz überraschte er die Teilnehmer: „In unserer Gruppe gibt es Männer die tanzen und sich mit Ihrer Krankheit auseinandersetzen!“

Kraft in der Krise

Dr. Christina Berndt ist Wissenschaftsredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung, ihre Schwerpunkte sind Psychologie, Lebenswissenschaften und Medizin. Sie hielt einen praxisorientierten Vortrag, dessen Kernbotschaften auf Auswertungen verschiedener Studien beruhten. Sie zeigte auf, dass psychische Widerstandskraft (Resilienz) individuell unterschiedlich bei den Menschen ausgeprägt ist. Hierbei spielt bereits die genetische Veranlagung eine Rolle und auch Kindheitserfahrungen prägen den Menschen. Die gute Nachricht hierbei ist jedoch, dass Widerstandskraft auch erlernt und trainiert werden kann! Anhand zahlreicher Beispiele, zeigte Sie wie durch die Änderung der Blickrichtung oder kleine Hilfestellungen im Alltag neue Kraft in der Krise entstehen kann. Eine verunglückte Spitzensportlerin mit einem Querschnitt, überraschte nach einem halben Jahr der Zurückgezogenheit, mit dem Schlüsselsatz „Ich bin immer noch ich - aber anders“. In diesem Satz steckt zum einen die „Annahme des Schicksals“ sowie „der Blick nach vorne“ und beides gibt neue Lebensenergie.

Frauen haben nicht “mehr“ Bewältigungsstrategien – nutzen sie aber besser!

Den Vortrag „Chronische Krankheit als kritisches Lebensereignis: Herausforderung und Belastung“ hielt Herr Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel, Direktor der Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie der Uni-Freiburg. In der Forschung wird Krankheit als „Stressor“ klassifiziert; bei der Krankheitsverarbeitung spielen Art, Schwere und Dauer des Stressors eine Rolle. Einfluss auf die Verarbeitung haben unter anderen die persönlichen Ressourcen, Partner, Familie und Freunde. 

Die Hypothese, dass Frauen emotionsorientiert und Männer problemorientiert bei der Krankheitsbewältigung vorgehen, lies sich nicht halten. Es zeigte sich, dass beide Geschlechter gleich viele Bewältigungsstrategien zur Verfügung haben, die Frauen sie aber mehr nutzen.

Anhand einer Folie veranschaulichte Prof. Bengel, dass bei chronisch kranken Patienten mit psychischen Störungen nur 48% der Störungen überhaupt erkannt werden und von diesen Patienten erhalten nur 53 % eine korrekte Diagnose. Das bedeutet, dass nur ein Viertel der Betroffenen die Chance auf eine adäquate Therapie bekommen. Dieses Zahlenbeispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass im Sinne der Patienten eine bessere Vernetzung von Behandlern und Betroffenen entsteht, damit künftig noch mehr und vor allem die richtigen Diagnosen gestellt werden können. Einen wichtigen Beitrag hierzu leisteten auch die am Nachmittag bei der Tagung angebotenen Workshops.

In drei Workshops diskutierten Ärzte/Psychotherapeuten und Betroffene Möglichkeiten, chronische Erkrankungen besser zu bewältigen: erstens Selbsthilfegruppen, zweitens Psychotherapie und drittens Musiktherapie. In der Ergebnisrunde am Ende der Veranstaltung wurde deutlich, dass jede „Unterstützungsmaßnahme“ auf ihre Art hilft, das Leben chronisch kranker Menschen ein Stück lebenswerter zu machen.

Weitere Informationen und Dokumentationen finden Sie im Anhang.

Die Seltenheit einzelner Erkrankungen erschwert die medizinische Versorgung  der Patienten – sowohl in fachlicher Hinsicht, als auch strukturell und  ökonomisch. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Württemberg initiierte in Kooperation mit der LAG KISS, der LAG SELBSTHILFE Baden-Württemberg und dem Paritätischen Baden-Württemberg erstmalig eine Fachtagung zum Thema „Seltene Erkrankungen“, um Behandler und Betroffene bei diesen Herausforderungen zu unterstützen. Mit rund 100 Teilnehmern (je zur Hälfte Ärzte und Psychotherapeuten und Vertreter von Selbsthilfegruppen) war die Veranstaltung gut besucht.

Deutschland noch als „Entwicklungsland“

Dr. med. Christine Mundlos, ACHSE-Lotsin an der Charité, hielt ein eindrucksvolles Einführungsreferat zum Thema „Wie gestaltet sich die Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen insgesamt?“. Im Anschluss daran stellte Prof. Dr. Olaf Rieß, Facharzt für Humangenetik und Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) der Uni-Tübingen, den Aufbau und die Arbeitsweise des ZSE vor. Exemplarisch stellte er die Odyssee vieler Patienten mit Seltenen Erkrankungen bis zur fachkundigen medizinischen Behandlung dar. In den anschließenden Diskussionen wurde deutlich, dass für eine frühzeitige Diagnosestellung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen alle medizinischen Fachrichtungen auch über die Grenzen von ambulanter und klinischer Versorgung hinweg besser zuzsammenarbeiten müssen. Außerdem ist es dringend notwendig, mehr Geld für die Diagnostik und Forschung von Seltenen Erkrankungen zur Verfügung zu stellen. Prof. Rieß verdeutlichte anhand einer Aufstellung, dass Deutschland beim Umgang mit Seltenen Erkrankungen im europäischen Vergleich eher als „Entwicklungsland“ einzustufen ist.

Am Nachmittag diskutierten Selbsthelfer und Ärzteschaft in vier konstruktiven Workshops, wie die Versorgung der Patienten mit Seltenen Erkrankungen gemeinsam verbessert werden könnte. Die Selbsthilfegruppen spielen eine außerordentlich wichtige Rolle, da durch diese häufig das geringe überhaupt vorhandene Wissen zusammengetragen und weitergegeben werden kann.

Hausärztliche Spürnase gefragt

In einem Impulsreferat unterstrich Dr. Jürgen de Laporte, dass er sich beim Verdacht auf eine Seltene Erkrankung auf seine „hausärztliche Spürnase“ verlasse. Er betonte jedoch gleichzeitig, dass für eine schnellere Diagnosestellung eine Telefonsprechstunde für Hausärzte an den ZSEs eingerichtet werden solle. Prof. Rieß wies auf die Probleme in den ZSEs hin, in denen stapelweise Patientenakten ankommen, aufgrund der Unterfinanzierung jedoch keine Zeit bleibt, um diese adäquat zu sichten. Deshalb wünschen sich die ZSEs von ihren niedergelassenen Kollegen eine kurze und punktgenaue Aufarbeitung der Fälle.

Trotz aller ungelösten Probleme konnten in den vergangenen Jahrzehnten beeindruckende Erfolge in der Behandlung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen erreicht werden, die sich in verlängerter Lebenszeit messen lassen.

Ein ungelöstes Problem bleibt die so genannte Transition bei der Behandlung von Seltenen Erkrankungen, die meist im Kindesalter diagnostiziert werden. Eine Teilnehmerin wünscht sich eine bessere Überleitung vom Pädiater zum Erwachsenenmediziner. Sie gibt zu bedenken: „Als Erwachsene geht man nicht mehr gerne in die Kinderklink zur Behandlung.“

Im Verlauf der Tagung wurden viele wichtige Punkte erarbeitet, die es umzusetzen gilt, damit für diese Patienten „dem Suchen schneller ein Ende und dem neuen Leben ein Anfang“ bereitet werden kann.

Fortbildungsveranstaltungen zur Selbsthilfe

Zum Versorgungs-Forum AD(H)S kamen mehr als 120 Teilnehmer, um über die aktuelle Versorgungssituation, der laut Statistik ca. 70.000 von AD(H)S betroffenen Patienten, in Baden-Württemberg zu diskutieren. Mit einer Zweidrittelmehrheit der Teilnehmer waren die Ärzte und Psychotherapeuten beim Forum sehr zahlreich vertreten. Weitere Teilnehmer kamen aus dem Bereich der Selbsthilfe oder der sonstigen Behandler.

Das "Versorgungs-Forum AD(H)S Baden-Württemberg" wurde von Daniela Fuchs, Kooperationsberaterin für Ärzte/Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen (KOSA) der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg sowie Frau Riedelbauch, Landesgruppenleiterin des ADHS Deutschland e.V. organisiert und moderiert. Herr Wachendorf, Vorstandsbeauftragter der KVBW, begrüßte die Teilnehmer zur Veranstaltung.

Der ADHS-Vertrag fördert die interdisziplinäre Kollegialität.

Seit 1. April 2009 besteht der AD(H)S-Versorgungsvertrag in Baden-Württemberg. Frau Dr. med. Christa Schaff, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Nervenheilkunde, war als Vorstandmitglied ihres Berufsverbandes des BKJPP maßgeblich an dessen Entstehung und Einführung beteiligt. Im Rahmen ihres Vortrages mit dem Titel "Versorgung der Kinder und Jugendlichen mit AD(H)S in Baden-Württemberg - Einführung und Überblick" zeigte sie anhand von Statistiken auf, was sich zwischenzeitlich bei der Versorgung der Patienten aufgrund des Vertrages verändert hat. Es wurde deutlich, wie durch den modularen Aufbau der Therapie, eine individuelle auf den Patienten und sein Umfeld abgestimmte Behandlung gelingen kann. Wesentliche Kernziele des Vertrages konnten bereits erreicht werden. Das Herzstück des Vertrages ist zweifellos die interdisziplinäre Teamarbeit, in den regionalen AD(H)S-Teams, welche sich spürbar positiv auf die Arzt-Patienten-Beziehung auswirkt. Zusätzlich werden die ko-morbiden Störungen besser erkannt und behandelt. Frau Dr. Schaff hebt positiv hervor, dass es gelungen ist, eine bessere extra budgetäre Vergütung für die Behandlung der Patienten zu erreichen, bedauert jedoch, dass die interdisziplinäre Kooperation der involvierten Fachleute noch immer nicht honoriert wird. Alles in allem stellt der Vertrag ein Novum dar, da es erstmalig gelungen ist, drei Berufsgruppen zu Behandlungsteams zusammen­zu­fassen. Hierfür erntete Frau Dr. Schaff auch von ihrem Nachredner Prof. Renner ein großes Lob. In ihrem Fazit betonte sie, wie wichtig es wäre, eine flächen­deckende Versorgung auf diesem Niveau zu erreichen. Dafür müssten sich jedoch – neben niedergelassenen Kinderärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten – weitere Krankenkassen dem Vertrag anschließen.

Die genetische Wissenschaft des Krankheitsbildes hat sich stark weiterentwickelt, dabei aber die Therapie nicht vereinfacht

Im zweiten Referat "Update Pharmakotherapie bei AD(H)S" berichtete Prof. Dr. med. Tobias Renner, Ärztlicher Direktor der Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universität Tübingen, über die Wirkungsmechanismen, Chancen und Risiken der pharmakologischen Behandlung der AD(H)S. Sein Bericht stellte die positiven Effekte der Medikation bei eindeutiger Diagnosestellung ausführlich dar. Selbst nach der Zulassung neuer Substanzen wie Atomoxetin und Lisdexamphetamin sowie der anstehenden Markteinführung von Guanfacin zur Behandlung der AD(H)S, bleibt Methylphenidat die Medikation der ersten Wahl. Ein nicht unerheblicher Teil der anschließenden Diskussion galt der Frage einer medikamentösen Behandlung extrem auffälliger Kinder bereits vor dem siebten Lebensjahr. Professor Renner warnte jedoch vor einem allzu frühen Einsatz von Medikamenten. Dabei betonte er, dass es bei der medikamentösen Behandlung der AD(H)S nicht um bessere Leistungen gehe, sondern um eine verbesserte Selbststeuerungsfähigkeit der Betroffenen insbesondere im sozialen Bereich, damit nicht Ausgrenzung und Aussonderung das Leben der AD‍‍‍‍‍‍(H)‍‍‍‍S-Kinder und Jugendlichen bestimmt.

Der Zeitpunkt der endgültigen Verabschiedung der S3 Leitlinie bei AD(H)S bleibt offen

Nach einer Pause sprach im zweiten Vortragsblock Dr. med. Matthias Gelb, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Mitglied der AWMF-Leitlinien-Kommission ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter (S3), über "Aktuelles zu den Leitlinien bei AD(H)S". Die Leitlinien sind gewissermaßen das wissenschaftliche Gerüst der Diagnose und Therapie der AD(H)S; die S3-Leitlinie steht dabei für eine syste­ma­tische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege sowie evidenz­basierte Therapieempfehlungen. Dr. Gelb verdeutlichte, wie problematisch die Erarbeitung der S3 Leitlinie durch die Interessenskonflikte der involvierten Fachleute ist. Letztlich konnte man nach mehr als vier Jahren diese Leitlinie noch nicht fertigstellen. Insbesondere da häufig die bereits alltäglich angewandten Verfahren bis heute nicht oder nur unzureichend wissenschaftlich evaluiert wurden.

Durch geweckte Leidenschaft erreichen AD(H)S Kinder Höchstleistungen

Abschließend sprach der Psychologe und 2. Vorsitzende des ADHS Deutschland e.V., Dr. Johannes Streif, über "Psychologische Interventionen bei AD(H)S" jenseits des Störungsbegriffs. Dr. Streif betonte, wie wichtig in der Therapie der AD(H)S der Blick auf die konkreten Probleme des einzelnen Betroffenen sowie seines sozialen Umfelds ist. Das thera­peutische Handeln, sollte die von AD(H)S betroffene Person und deren individuellen Entwicklungs­bedürfnisse in den Mittel­punkt stellen und nicht grund­sätzliche Erwägungen zur AD(H)S, erklärte der Referent. Zugleich hielt Dr. Streif Therapeuten, Eltern und auch die Patienten selbst dazu an, sich im Vorfeld der Wahl einer Therapie intensiv Gedanken darüber zu machen, welches Ziel damit erreicht werden soll und kann. Im Verlauf muss stets von allen involvierten Personen aufs Neue reflektiert werden, ob die Therapie die Erwartungen erfüllt, oder ggf. das therapeutische Handeln angepasst werden muss, um die erhofften Ergebnisse zu erreichen. Beim Auftreten einer Störung wie der AD(H)S, der eine in hohem Maße physiologisch disponierte Steuerungs­problematik zugrunde liegt, sollte auf eine praxis­nahe Bewältigung des Alltags der Betroffenen genauso viel Wert gelegt werden, wie auf die individuelle thera­peutische Behandlung der Patienten.

Die Veranstaltung stellte sowohl für die anwesenden Fachleute wie auch für die teilnehmenden Vertreter der Selbsthilfe einen Gewinn dar. Dies kam besonders in den Frage­runden zum Ausdruck.
Als Dankeschön für ihre gelungenen Vorträge überreichte Frau Riedelbauch vom ADHS Deutschland e. V. den Referenten einen Bildband zum Thema AD(H)S.

Rund 150 Teilnehmer folgten der Einladung zur Fortbildung "Essstörungen erfolgreich behandeln" für Ärzte und interdisziplinäre Fachkräfte, die die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) in Kooperation mit dem Arbeitskreis Essstörungen Stuttgart am 19. November 2014 angeboten hat. Über 100 Ärzte und Psychotherapeuten kamen, um über die zunehmenden Erkrankungen und deren Behandlung zu diskutieren.

Uwe Keller, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Mitglied des Bezirksbeirates der KVBW-Bezirksdirektion Stuttgart moderierte die Veranstaltung. Von Seiten des Arbeitskreises Essstörungen Stuttgart begrüßte Marianne Sieler die Teilnehmer. Sie hatte die Kooperationsveranstaltung gemeinsam mit Daniela Fuchs, Referentin der Kooperationsberatung für Ärzte/Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen (KOSA), organisiert.

Interdisziplinäre Behandlungsansätze können etwas bewegen

Den einführenden Fachvortrag hielt Dr. Dietrich Munz, Präsident der Landes­psychotherapeuten­kammer. Er ging ausführlich auf die Diagnostik und Therapie der Krankheitsbilder Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa und Binge-Eating-Störung ein. Diese Informationen bildeten die Grundlage für die anschließende Podiumsdiskussion. Alle Teilnehmer betonten hierbei immer wieder die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Nur in der gemeinsamen Behandlung durch Kliniken, niedergelassene Psychotherapeuten und Ärzte, Ernährungsberater und die Kinder- und Jugendhilfe lässt sich für die Betroffenen etwas bewegen. Der Heilungsweg kann individuell unterschiedlich sein und aus verschiedenen der genannten Behandlungselemente bestehen. Aus Sicht der Podiumsteilnehmer ist es wichtig, dass die Patienten einen kontinuierlichen Ansprechpartner haben, von dem sie Orientierung und Koordination auf ihrem Therapieweg erhalten. Diese Funktion können Ärzte und Psychotherapeuten sehr gut übernehmen. Unterstützung bietet ihnen das Netzwerk des Arbeitskreises Essstörungen Stuttgart. Wichtig darüber hinaus sind die niederschwelligen Angebote der Beratungsstellen. Diese übernehmen oftmals eine wichtige Türöffner-Funktion. Betroffene und deren Angehörige erfahren dort erste Hilfe und Motivation zur Behandlung.

In der Diskussion wie auch an Informationsständen fanden die ergänzenden Hilfestellungen von Selbsthilfegruppen zum Thema Essstörungen ihren Raum. Manche Patienten profitieren sehr von dieser zusätzlichen Unterstützung. Die Experten stuften es als sehr sinnvoll ein, die Betroffenen zu ermutigen diese Möglichkeit auszuprobieren.

Gute Vernetzung der Therapieangebote

Die einheitliche Forderung der Podiumsteilnehmer an die Niedergelassenen lautete: „Bitte wagen Sie es, Ihre Patienten frühzeitig auf eine Essstörung anzusprechen. In Stuttgart und Umgebung gibt es eine gute Vernetzung der ambulanten und stationären Therapieangebote, die eine rasche und erfolgsversprechende interdisziplinäre Behandlung ermöglicht.“

Zu Ehren des 100. Geburtstages des Impfstoff-Erfinders Dr. Jonas Salk hatte die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg zu einem Symposium nach Stuttgart eingeladen. Rund 155 Teilnehmer kamen. Die Beteiligung von fast 50 Ärzten und Psychotherapeuten zeigt die immer noch große Brisanz der Folgeerscheinungen der Polioepidemie. Für den Gastgeber begrüßte Dr. Michael Jaumann, KVBW-Bezirksbeirat für Stuttgart und HNO-Arzt mit Schwerpunkt Umweltmedizin, die Teilnehmer.

Geplant und organisiert haben die Veranstaltung Daniela Fuchs in ihrer Funktion als Kooperationsberaterin für Ärzte/Psychotherapeuten und Selbsthilfegruppen (KOSA), Margit Marte vom Bundesverband Poliomyelitis und Ingrid Elster von der Polio Initiative Europa. Namhafte Experten aus Medizin und Therapie referierten zu den Themen Neurologie, Anästhesie, Schmerztherapie, Orthopädie und Physiotherapie. So verschieden die Schwerpunkte auch waren bedauerten die Referenten doch einmütig, dass in unserem Gesundheitssystem nicht ausreichend Behandlungszeit für den Patienten zur Verfügung steht.

Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam

Wer kennt ihn nicht, den Slogan aus der Polio-Impfkampagne? Dank der Erfindung des Impfstoffs im Jahr 1961 und der breit angelegten Schluckimpfung ist Kinderlähmung in unseren Breiten nahezu ausgestorben. Europa und damit auch Deutschland gelten als poliofreie Zone. Was das bedeutet, kann niemand besser beurteilen als ehemals an Kinderlähmung Erkrankte. Bei vielen Patienten kommen nach Jahren der Stabilität die körperlichen Beschwerden als Post-Polio-Syndrom (PPS) wieder. Oftmals gesellen sich neue Beschwerden hinzu. Die Polio-Patienten und Selbsthilfegruppen mussten lange für die Anerkennung des Post-Polio-Syndroms kämpfen.

Gesundheitssystem nicht immer patientenfreundlich

Prof. Dr. Alfred Lindner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie am Marienhospital in Stuttgart: „Das Wichtigste bei einem Neurologen ist das Gespräch, für das im Klinikalltag aus wirtschaftlichen Gründen leider nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht.“ Lindner ging in seinem Vortrag ausführlich auf die Historie der Kinderlähmung ein. Auch ein Baden-Württemberger hat Geschichte geschrieben: Jakob von Heine, gebürtiger Badener und später Chef einer orthopädischen Klinik in Bad Cannstatt, hat als erster die Krankheit erkannt und beschrieben. Nach Jahren einer „stabilen Phase“ tritt die Erkrankung mit Symptomen wie beispielsweise abnormer Müdigkeit, Atem- und Schluckbeschwerden oder auch Schlafapnoe als Post-Polio-Syndrom wieder in Erscheinung. Angesichts der Komplexität müssen alle Spezialisten, Diagnostiker und Therapeuten, eng zusammenarbeiten. Lindner ermuntert die Teilnehmer abschließend, sich bei gesundheitlichen Beschwerden keinesfalls pauschal als PPS-Patient abspeisen zu lassen: „Es gibt viele Begleiterkrankungen, die erfolgreich behandelt werden können.“

Sorge vor der Narkose ist unbegründet

Prof. Dr. med. Franz Kehl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin des Städtischen Klinikums Karlsruhe, versuchte, den PPS-Patienten die Angst vor Narkosebehandlungen zu nehmen. Wichtig ist, dass die Ärzte über die Erkrankung informiert sind. Hierfür dient ein allumfassendes Prämedikationsgespräch, da das Narkosemittel auf die Atembeschwerden und weitere Einschränkungen der Patienten abgestimmt werden muss. Mit der ASA-Klassifikation werden die Patienten bezüglich ihres körperlichen Zustandes in verschiedenes Gruppen eingeteilt. Auch sind zum Beispiel die körperliche Belastbarkeit und ein Lungenfunktionstest wichtige Faktoren. Sicherheit über einen guten und richtigen Verlauf der Anästhesie gibt dem Narkosearzt in der modernen Medizin das während der OP eingesetzte Monitoring. Für den Patient ist es von Vorteil, die beste Lagerungsposition für die OP selbst bestimmen zu können. Während und nach der OP muss auf eine konstante Körpertemperatur geachtet werden, da PPS-Patienten eine Kälteintoleranz aufweisen. In der postoperativen Phase spielen noch viele weitere Aspekte bei PPS-Patienten eine Rolle, weshalb Prof. Kehl eine mindestens 24-stündige Überwachung auf der Intensivstation empfiehlt.

Der zweite Teil des Vortrages bezog sich auf die Schmerztherapie bei PPS-Patienten. Durch die fortschreitende Muskeldystrophie und die damit verbundene stärkere Abnützung der Knochen und Gelenke entstehen zunehmend chronische Schmerzen. Hier ist ein ganzheitlicher Ansatz gefragt, bei dem der Mensch mit Körper, Seele und sozialem Leben gesehen und in der Schmerzerkrankung behandelt wird. Dies kann nur eine ambulante Behandlung in einem Schmerzzentrum leisten. Kehl fordert daher für PPS Patienten eine multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie.

B91 und G14 sind die ICDs für Poliofolgezustände und PPS

Nach der Mittagspause referierte Dr. med. Axel Ruetz, Chefarzt der Klinik für Konservative Orthopädie und des Polio-Zentrums in Koblenz. Die Klinik Koblenz hat ein modulares stationäres Diagnose- und Behandlungskonzept für Poliospätfolgen entwickelt. Seit 2014 hat die „Klinik für Kämpfer“ sogar eine Polio-Station. Hier kann durch diverse Untersuchungen und Tests die richtige Gymnastik- und Bewegungstherapie zum Erhalt der Muskulatur entwickelt werden, ohne Muskelaufbau zu betreiben, denn dieser schadet den PPS-Patienten. Zudem bietet das Poliozentrum eine auf den Patienten abgestimmte Schmerztherapie sowie eine bedarfsgerechte Orthesen-Versorgung mit entsprechender Gebrauchsschulung an. Gerade bei der Orthesen-Versorgung kann durch die richtige Wahl bei Erstverordnung viel Geld und Muskelkraft gespart werden. Trotz einer guten Orthetik entsteht nach Jahren Arthrose, die Gelenke verschleißen und müssen durch Endoprothesen ersetzt werden. Ruetz appelliert eindringlich an die Operateure, vor dem Eingriff keine Angst zu haben. Nach sorgfältiger Vorabinformation gilt es die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. In der Regel sind minimal invasive Eingriffe die erste Wahl.

Die Kraft der Muskeln ist begrenzt, die Kraft des Geistes unendlich

Das Abschlussreferat mit dem Titel: „Physiotherapie als Chance“ hielt Daniela Krusche vom Neurologischen Rehabilitationszentrum Quellenhof in Bad Wildbad. Sie arbeitet dort seit 1996 als Physiotherapeutin. Die Wichtigkeit der Muskulatur erhaltenden Therapie hatten bereits die Vorredner angesprochen. Für PPS-Patienten gilt der Grundsatz „Koordinations- statt Krafttraining“. Die Trainingsintensität liegt bei 20 bis 60 Prozent. Hier sind Physiotherapeuten besonders auf die Rückmeldungen der Patienten angewiesen. Durch ständiges Feedback der Patienten entwickelt Krusches Team die optimale Übungsdauer und Intensität, sodass die Patienten ihr individuelles Trainingsprogramm zuhause fortsetzen können. Dabei stehen verschiedene Behandlungskonzepte zur Verfügung, die spezifisch eingesetzt werden. Daniela Krusche fordert, dass die Patienten ihre Einschränkungen und Probleme gegenüber dem Therapeuten ansprechen, um die Übungen besser anpassen zu können. Den behandelnden Ärzten empfiehlt sie eine exakte Verordnung, zum Beispiel Krankengymnastik mit dem Zusatz „auf neurologischer Basis“.

In den Fragerunden wurde deutlich, wie gut informiert die Teilnehmer aus Selbsthilfegruppen über die Krankheit sind. Mancher hat sich im Lauf seiner Leidensgeschichte ein Expertenwissen angeeignet.

Als Zeichen der Verbundenheit erhielten die Referenten von den Polioverbänden gerahmte asiatische Schriftzeichen. Diese bedeuten übersetzt: „Die Kraft der Muskeln ist begrenzt, die Kraft des Geistes unendlich.“